Willkommen bei Nightshade
Wähle: Onlineshop | Magazin
Name: Passwort: | Passwort vergessen? | Registrieren



Rezension (Literatur)Blättern: Vorheriger Artikel | Nächster Artikel

Gerard Donovan: Winter in Maine

Der Mensch ist dem Mensch ein Wolf

Der 51jährige Julius Winsome lebt ein Einsiedlerdasein in einer kleinen Jagdhütte mitten in den Wäldern des US-Bundesstaats Maine. Dass der Winter dort lang, kalt und einsam ist, hat ihn bislang nicht gestört. Wer hier lebt, legt keinen Wert auf Nachbarn. Winsome hat in seinem Pitbullterrier Hobbes - benannt nach dem berühmten englischen Staatsphilosophen Thomas Hobbes - einen treuen Begleiter und Familienersatz gefunden. Er liebt die Stille und die Natur und verbringt viel Zeit in seiner Bibliothek mit über dreitausend Büchern, die sein Vater ihm hinterlassen hat. Seit seiner Kindheit studiert er mit besonderer Hingabe Shakespear.

Doch diese schöne Idylle wird an einem eisigen Wintertag jäh zerstört. In den Wäldern von Maine beginnt die Jagdsaison. "Ich glaube, ich habe den Schuss gehört", ist der erste Satz des Buches. Vermeintlich vorsätzlich wird Julius Winsomes Hund von einem unbekannten Jäger aus nächster Nähe erschossen. Hobbes stirbt in seinen Armen, und damit beginnt die Tragödie ihren Lauf. Winsome fasst einen schrecklichen Entschluss. Er holt das Gewehr seines Großvaters aus der Scheune und begibt sich seinerseits auf die Jagd. Er beabsichtig Hobbes´ Mörder zu finden und seinen geliebten Hund zu rächen.

Während seines Rachefeldzuges blickt Julius Winsome auf sein bisheriges Leben zurück, das geprägt ist von Verlusten: Mutter, Vater und die große Liebe, alles hat er verloren. Aber bis jetzt war er eine Person gewesen, die ihr Schicksal emotionslos erduldet hat. Den Verlust seines Hundes dagegen kann er nicht aushalten. Von nun an verwandelt sich der friedliebende Winsome in einen erbarmunglosen und brutalen Mörder. Es scheint, als sei seine Menschlichkeit mit Hobbes` Tod erloschen. So kommentiert Winsome die Beerdigung seines treuen Gefährten mit den Worten: "Ich schaufelte die ganze Welt auf meinen Freund und spürte ihr Gewicht, als läge ich bei ihm dort im Dunkeln." Wie unter einem innerem Zwang beschuldigt er nun jeden, der ihm vor die Mündunng seines Gewehres gerät, der Mörder seines über alles geliebten Hundes zu sein.

Winsome führt einen "Krieg aller gegen alle" - "dieser bellum omnium contra omnes" ist übrigens, nach der Lehre von Thomas Hobbes, der grauenhafte, aller Zivilisation voraus liegende und unbedingt zu überwindende Naturzustand, in welchen jeder Mensch seines Mitmenschen Wolf ist. Für Winsome werden nun alle anderen Menschen zu seinen "natürlichen" Feinden. Im Verlauf des Romans erschießt er wahllos sechs Menschen. Der erste Mord, der den Leser völlig überrascht, wird wie nebenbei erwähnt: "Ich legte das Gewehr an die Schulter, schoss aus meinen achtzig Metern Entfernung, und die Kugel traf ihn in die Halsfalten. Er griff danach, als wäre es ein Insekt, drehte sich mit weit aufgerissenen Augen halb um und fragte sich, was passiert war." Winsome kommentiert diesen Mord mit Worten, die er bei der Lektüre Shakespears kennengelernt hat: "Du bist blutdurchsiebt sagte ich. Du bist bestoben." Ohne die Klarheit zu haben, ob die von ihm "erlegten" Menschen tatsächlich die Mörder seines Hundes sind, entfernt sich Winsome immer mehr von der Zivilisation und Humanität. So flüstert er einem Sterbenden zu: "Behalte es für dich, ist schon in Ordnung, es ändert nichts mehr." Um Recht oder Unrecht geht es ihm nicht, Winsome will Blut für Blut vergießen, denn "genau das bedeutet Rache".

Die Handlung - eine einzige Woche im November - ist schnell wiedergegeben. Das Besondere an dieser 200 Seiten starken Geschichte ist die sprachliche Ausdruckskraft, mit der Gerard Donovan erzählt. Er zeigt uns, wie ein vermeintlich zufriedener, naturverbundener Mensch in einen Wahn verfällt, und bietet dem Leser Einblicke in die Seeles eines Serienmörders; in sein Denken, seine Trauer, seine Wahnvorstellungen bis hin zu der wahnwitzigen Selbstverständlichkeit, mit der er Selbstjustiz betreibt. Was diesen Roman auszeichnet ist, dass er den Leser Julius Winsomes Schicksal hautnah miterleben und vor allem miterleiden lässt, während die Figur selbst kalt und gefühllos erscheint.

Die Anschaulichkeit dessen, was der Roman schildert, ist so eindringlich, dass man glauben könnte, selbst frierend durch die verschneiten Wälder Maines zu wandern. Der Roman übt eine ungeheure Faszination auf den Leser aus, man versteht und lehnt ab, ist ergriffen und gebannt, zugleich gerührt und erschüttert. Das alles schafft Donovan mit seiner scharfen kalten und präzisen Sprache. Ohne selbst ein moralisches Urteil zu fällen, beschreibt der Autor in kalter Sachlichkeit die Ereignisse und überlässt es dem Leser, sich mit den Fragen, was Trauer, Verlust und Alleinsein bei einem Menschen anrichten können, auseinanderzusetzen.

Darum kann das Fazit diesen Roman, dessen englischsprachige Originalausgabe 2006 erschienen ist, nur lauten Winter in Maine ist großartig und hat den Titel "Buch des Jahres 2008", den ihm die englische Tageszeitung "The Guardian" verliehen hat, durchaus verdient. Man hat schon lange kein Buch mehr gelesen, das so unter die Haut geht und dessen beunruhigende Stimmung so fesselt wie diese böse Geschichte. Wobei ich persönlich immer da gesessen habe, dass es richtig ist was Julis Winsome macht. Moralisch falsch ist das auf jedenfall, das wurde mir dann bei meinem zweiten Gedanken klar.
Wenn man die Buchdeckel, die, nebenbei erwähnt, besonders schön gestaltet sind, und die man am liebsten streicheln und füttern möchte, schließt, bleibt die Frage: Können Shakespearleser wirklich so wahnsinnig-böse sein?

14.09.2009, Luchtrhand Literaturverlag
208 Seiten, EUR 19,90
ISBN 978-3630872728

Cover

10/17/10 by Amelia

Blättern: Vorheriger Artikel | Nächster Artikel
Wie Du uns unterstützen kannst:
Dir gefällt unsere Arbeit? Das ist toll! Allerdings kostet sie Zeit und Geld, daher würden wir uns wir uns über die Zahlung einer freiwilligen Lesegebühr freuen! Auch mit dem Einkauf in einem unserer Shops kannst Du uns unterstützen:
eBay | Cardmarket | Booklooker | Kleinanzeigen
Zudem würden wir uns freuen, wenn Du einen eventuell vorhandenen "Adblocker" deaktivierst und/oder unsere Website und Inhalte in die Welt teilst. Vielen Dank!

Weitere Beiträge zu Gerard Donovan:

10/10/10Frankfurter Buchmesse 2010: Massen an Menschen(Bericht: Veranstaltungen)
ImpressumAllgemeine GeschäftsbedingungenDatenschutzerklärung

Postanschrift + Kontakt:
Nightshade - Frank van Düren
Landfermannstraße 9, 47051 Duisburg, Deutschland
Mail: info@nightshade-shop.de
Tel: 0203/39346380 | Mobil: 0170/3475907

Alle Rechte bei Firma Nightshade und Frank van Düren, ausgenommen eingetragene Markenzeichen der jeweiligen Hersteller und externe Webprojekte.
Konzept und Design 2001-heute by Nightshade/Frank van Düren.